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5 FRAGEN AN NICOLAUS SCHMIDT

Vietnam und Deutschland haben überraschend viele Verbindungen. Nach dem Unabhängigkeitskrieg wurden 1955 Kinder aus Nordvietnam in die DDR auf ein Internat geschickt. Aus Südvietnam gingen Studenten nach Westdeutschland. Beide Gruppen nahmen später oftmals ranghohe Positionen ein. Wie haben die Kinder und Studenten von damals die neuen Erfahrungen erlebt und was ist aus ihnen geworden? Der Künstler und Historiker Nicolaus Schmidt zeichnet in seinen Fotografien und in biografischen Artikeln ein lebendiges Bild der deutsch-vietnamesischen Beziehungen. Wir haben ihn zu diesem speziellen Buch befragt:

1. Die Thematik des Buches ist sehr außergewöhnlich. Wie sind Sie darauf gestoßen und was hat Sie fasziniert?

Der Anstoß kam über eine Anfrage der deutschen Botschaft in Hanoi, ob ich ein Fotoprojekt zu deutsch-vietnamesischen Beziehungen machen wolle. Da ich schon als Schüler gegen den Vietnamkrieg protestiert hatte und auch später in meiner Arbeit für terre des hommes mit Vietnam zu tun hatte, konnte ich natürlich nicht nein sagen. „Feuer gefangen“ habe ich dann gleich beim ersten Fototermin, wobei die Familiengeschichte des Fotopartners das eigentlich Interessante war – eine Familie, die alle Phasen der neueren vietnamesischen Geschichte durchlitten hat, angefangen beim Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft. Fotografisch war es hingegen schwierig. Das Büro, in dem wir uns trafen, hätte auch in Tokio oder Berlin sein können. Für mich war die Konsequenz: ich steuere kein normales Fotobuch an, sondern versuche, Material für ein Buch zu erarbeiten und zu recherchieren, das zugleich Foto- und Geschichtsbuch ist.

2. Sie haben im Rahmen des Projektes viele Interviews geführt. Welche Biografie ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Zutiefst bewegt hat mich das Schicksal von Võ Thị Kiều Chinh und ihren Freunden. Chinh lebt heute in einer Gemeinschaftswohnung in Ho-Chi-Minh-Stadt. Mit fünf Jahren wurde sie 1968 von einem Bombensplitter getroffen und ist seitdem querschnittsgelähmt. Wie ihre Freunde auch wurde sie damals von terre des hommes zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen. Mit elf Jahren konnte sie besser Deutsch als Vietnamesisch sprechen, musste aber wegen eines Regierungsabkommens 1974 nach Vietnam zurück. Dort machten sie und ihre Freunde nach dem Sieg der nordvietnamesischen Truppen und des Vietcong 1975 eine schreckliche Zeit durch. Die neuen Autoritäten hatten kein Konzept dafür, wie mit behinderten Menschen umgegangen wird. Chinh wurde in ein Heim alter katholischer Nonnen abgeschoben, wo es darum ging, überhaupt etwas zum Essen zu erhalten. An Schulbildung war nicht zu denken. Ihre etwas ältere Freundin Manh wurde in ein Sterbehospiz für alte Leute gesteckt. Die „zehn verlorenen Jahre“ Vietnams nach 1976 haben alle existentiell durchlitten. Sie haben aber im Unterschied zu anderen überlebt und Chinh konnte später ihr Deutsch vervollkommnen und arbeitet heute in einer Firma zur Erfassung von deutschen Texten.

 

3. Wie würden Sie das Verhältnis von Dokumentation und künstlerischem Anspruch in Ihren Fotografien beschreiben?

In früheren Projekten wie dem Buch INDIA WOMEN habe ich eher einen dokumentarischen Ansatz verfolgt, habe die Frauen auf dem Land in Indien bei ihrer Arbeit begleitet. In diesem Projekt musste ich anders vorgehen, da ich für die Interviews und das Fotografieren meist nur etwa zwei Stunden Zeit hatte. Ich konnte immerhin versuchen, die Fotos in den jeweiligen Arbeitssituationen aufzunehmen. Dort konnte ich manchmal noch einen räumlichen Zusammenhang finden, der etwas über die zu fotografierende Person oder die Umstände aussagt, musste dabei aber, was ich sehr ungern tue, Anweisungen geben, wo sich meine Fotopartner aufstellen sollten. Als Gestaltungsmittel habe ich unter diesen eingeschränkten Verhältnissen meist auf eine strenge Bildkomposition gesetzt.

4. Wie haben die Menschen in Vietnam auf Ihr Projekt reagiert?

Ich konnte meine Fotografien in Vietnam in zwei sehr unterschiedlichen Ausstellungen zeigen. Im Süden, in  Ho-Chi-Minh-Stadt, war dies eine klassische Ausstellung im neu erbauten „Deutschen Haus“, einem Prestigeprojekt, in dem sich viele deutsche Firmen angesiedelt haben. In Hanoi sind dagegen in einer Open-Air-Ausstellung 28 großformatige Fotos an den Umfassungsmauern der deutschen Botschaft zu sehen – noch bis zum Ende des Jahres 2018. In beiden Städten war die Resonanz sehr positiv. Mir war gar nicht klar, wie hochpolitisch es ist, dass ich südvietnamesische Biografien (auch die früherer Boat-People) gleichberechtigt neben nordvietnamesischen zeige. Dies wurde vielfach als etwas Besonderes hervorgehoben. Im Norden wiederum scheinen sich frühere Studenten oder Vertragsarbeiter in der DDR über die Würdigung ihres Werdegangs in einem Buch sehr gefreut zu haben, das in enger Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt entstanden ist (Ich habe einige Texte vom Auswärtigen Amt gegenlesen lassen, weil ich mit dem Buch Tabuzonen – für offizielle vietnamesische Stellen –  berührt habe). Besonders gefreut habe ich mich über das Interesse junger Leute an dem Buch, das ich Anfang November mitten in Hanoi auf einem „Deutschlandfest“ der Botschaft öffentlich vorstellen konnte.

5. Welche Pläne verfolgen Sie als nächstes?

Dieses ist das zweite hochkomplexe Buch, das ich nacheinander innerhalb eines Jahres recherchiert, fotografiert und geschrieben habe. Jetzt brauche ich erst einmal eine Pause. In den letzten acht Jahren habe ich sechs Bücher veröffentlicht.  Bei mir im Atelier herrscht ein Chaos, das geordnet werden will. Dann gibt es aber zwei alte Projekte, aus denen hoffentlich auch jeweils ein Buch entsteht: Gayhane, eine schwul-lesbisch-türkische Partyreihe im SO 36 in Kreuzberg und dann ein zweites Indien-Projekt, für das ich noch eine Reise in den Norden und Nordwesten Indiens.


Publikation Viet Duc. Deutsch-vietnamesische Biografien als Spiegel der Geschichte / Nhung trang tieu su Duc-Viet nhu tam guong phan anh lich su

Herausgeber: Kunststiftung K52
Gestaltung Nicolaus Schmidt, Berlin
ISBN 978-3-7356-0484-2

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