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Between Lines | Dénesh Ghyczy im Interview

In Dénesh Ghyczys Arbeiten der vergangenen beiden Jahrzehnte treffen Abstraktion und Gegenständlichkeit auf vitale Weise aufeinander und hinterfragen den Zusammenhang von Betrachtetem und Malerei. Das Sichtbare ist dabei immer der Ausgangspunkt. Auf vielen Bildern haben die Porträtierten ihre Augen geschlossen: sie suchen Kontakt zu etwas, das im Bild selbst nicht sichtbar wird. Ghyczys Bildern gelingt es jedoch, dem aufmerksamen Betrachter eine Ahnung von diesen Erfahrungsräumen zu geben. Sie erzählen von intimen Momenten und von Augenblicken der Selbstvergessenheit in unserer schnelllebigen Gesellschaft.

Die Publikation Between Lines zeigt eine repräsentative Auswahl der Arbeiten aus den vergangenen 17 Jahren, die während seiner Schaffensperioden in Budapest und Berlin entstanden sind. Kurz nach der Veröffentlichung hat das Aesthetica Magazine den Künstler zu seiner Arbeit befragt.

 

Ihre Gemälde überschreiten die Grenze zwischen Realismus und Abstraktion, indem Sie separate Pinselstriche im Wechselspiel mit bestehenden Figuren verwenden. Wie haben Sie diesen Stil entwickelt?

In meinen frühen Arbeiten habe ich Menschen durch Strukturglas hindurch gemalt. Die Abstraktion kam durch die verzerrenden und fragmentierenden Eigenschaften der Lichtbrechenden Strukturen bzw. Apparate zustande. Die Arbeiten waren in dem Sinn noch immer realistisch, dass ich etwas malte, das man auch durch das Objektiv einer Kamera sehen würde. Erst schrittweise wurde meine Kunst malerischer, weniger kontrolliert. Pinselstriche übernahmen die Funktion des Glases.

Glauben Sie, dass Ihre Arbeiten den Zustand des Fegefeuers beschwören – Ihre Figuren sind nicht auf einer bestimmten Ebene fixiert, gefangen zwischen diesen beiden Stilen?

Ja, ich spiele gern mit unserem Glaubenssystem hinsichtlich der Art und Weise, wie wir beobachten. In meiner Malerei ist es nicht eindeutig, ob der Hintergrund „leer“ ist oder etwa eine Gestalt besitzt, in der die Figur eingebettet oder gefangen ist. Ich denke, es gibt stets mehrere Wahrheiten, mehrere Sichtweisen. Das kann zu einer bestimmten Art von Ungewissheit führen, die ich als Qualität betrachte. Durch das permanente Infragestellen unserer Gewohnheiten werden wir bewusster und flexibler.

Reagieren Sie mit diesem Schichtungsprozess auf Ideen der Selbsterforschung und des Selbstausdrucks?

Ich habe mich immer dafür interessiert, die Konturen und Umrisse der Figuren aufzulösen, einen Zustand von Offenheit und Transparenz zu erzeugen, denn wir sind keine isolierten Einzelwesen. Allerdings habe ich mich in meinen frühen Arbeiten auf ein Gefühl konzentriert, das vielen Menschen vertraut ist: unter einer Glasglocke zu leben, von Allem und Jedem abgekoppelt und entrückt. Jetzt habe ich die verdeckende Schicht entfernt, um das anzuschauen, was dahinter liegt, und das ist es, was ich als die Unterströmung bezeichne, einen alles verbindenden Fluss.

Warum interessieren Sie transformierende Porträts?

Wenn wir das Porträt von jemandem sehen, den wir nicht kennen, so kann ihr Bild wie ein Spiegel sein, der etwas von uns reflektiert. Indem wir sie verzerren und fragmentieren, wird unser Fokus gestreut, und wir können über die Oberfläche hinausgehen. Ein weiterer Grund für mein Interesse an transformierenden Porträts ist zu untersuchen, wie Erkenntnis funktioniert. Wir sehen Fragmente, kein kohärentes Bild. Die Lücken unserer visuellen Wahrnehmung werden von unserem Geist aufgefüllt. Gesichter zu erkennen ist eines der ersten Dinge, die wir überhaupt lernen, und es erstaunt mich, wie wir die visuelle Information reduzieren oder verändern und dennoch ein Gesicht erkennen können, weil wir das wollen.

In unserer heutigen Gesellschaft gibt es so viele Problemstellungen hinsichtlich dessen, wie wir uns selbst wahrnehmen, insbesondere in einer digitalen Welt. Reagieren Ihre Gemälde darauf? Warum halten Sie eine derart traditionelle Methode nach wie vor für relevant?

Die Fragen darüber, wer wir sind und wie wir uns wahrnehmen, sind so alt wie die traditionelle Methode der Malerei. Ich finde diesen Ansatz sehr erwärmend, zumindest wenn die menschliche Berührung dabei sichtbar bleibt. Ein mechanisch erzeugtes Kunstwerk kann nicht die Aura eines Gemäldes erreichen.

Ich bin davon überzeugt, dass Malerei noch immer ein riesiges Potenzial hat, wenn wir darin eintauchen, anstatt ihr Äußeres innovativ zu gestalten suchen. Sie kann einen Kontrapunkt zur durchgängig technisierten Welt bieten, der dem Unbewussten und Unbekannten einen Platz einräumt.

Bilden alle Ihre Serien thematisch oder stilistisch eine Einheit?

Serien zu schaffen ist für mich eine Art und Weise meine Gedanken zu ordnen und im Rückblick zu verstehen. Sie sind offen für Veränderungen und Zusätze. Die Serie „Into the Void“ hieß zuerst „Dive!“. Ich fing damit ungefähr im Jahr 2009 an, als ich einige große Veränderungen in meinem Privatleben vorausahnte. Der Serie wohnte das Gefühl inne, den Sprung ins Ungewisse zu wagen, die alten Gewissheiten loszulassen. Sehen kann ich dies allerdings erst im Nachhinein. Mitunter benötigen wir etwas Abstand, bevor wir den Zustand unseres Seins erkennen.

Wie denken Sie interpretiert der Betrachter Ihre Verwendung von Farbe? Interessiert es Sie überhaupt, wie Farbtheorien und naturalistische Formen überlappen?

Bei den naturalistischen Formen halte ich mich vor allem an das, was ich sehe und finde. Doch in meiner neuen Serie, die den Titel „Undercurrent“ trägt, beginne ich mit dem Hintergrund, wobei ich die Farbe intuitiv verwende. Die natürlichen Formen wähle ich dann auf der Grundlage der Farben und Pinselstriche aus. Mitunter will nichts klappen. Das könnte darauf hindeuten, dass die Unterströmung nicht richtig ist. Dann fange ich von vorne an.

Was sind Ihre Hauptinspirationsquellen und wie beeinflussen sie Ihre Arbeit?

Hauptsächlich ziehe ich meine Inspiration aus alltäglichen Beobachtungen. Ich trage stets meine Kamera bei mir und habe sie so zur Hand, wenn mir eine Situation mit interessantem Licht begegnet. Ich bin in den Niederlanden aufgewachsen, umgeben von den Alten Meistern, die das typisch holländische Licht einsetzen. Ich liebe die Atmosphäre von Innenräumen, in denen die Figuren in starken Helligkeitskontrasten gezeigt werden.

Was sind Ihre Pläne für die nächsten Projekte?

Mein neuer Katalog „Between Lines“ ist jüngst beim Kerber Verlag erschienen. Er wird über das Jahr 2017 hinweg in institutionellen Ausstellungen in Berlin, Helsinki und Tallinn präsentiert. Im März des darauffolgenden Jahres beherbergt das Ungarische Kulturinstitut in Berlin einen Monat lang mein Atelier. Die Idee besteht darin, dass den Besuchern Gelegenheit gegeben wird, dabei zu sein, wenn ich male. Ein Klavierkonzert des Komponisten Harald Blüchel bildet den Abschluss dieses speziellen Künstleraufenthalts.

Das Interview erschien zuerst in englischer Sprache auf der Webseite des Aesthetica Magazine.

 

Publikation: Dénesh Ghyczy. Between Lines, Dezember 2016.

herausgegeben von rabbitstreet,
mit Texten von Sven Grünwitzky.
Gestaltung von László Nádler.

ISBN: 978-3-7356-0307-4

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