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Von violetten Brotlaiben und gestrandeten Walen | Ralph Dutli im Dialog mit Alexej Jawlensky

Nach dem erfolgreichen Buch- und Austellungsprojekt der Kunsthalle Karlsruhe Unter vier Augen aus dem Jahr 2013, präsentiert die Kunsthalle nun das Nachfolgeprojekt Unter freiem Himmel. Dabei treten erneut Literatur und Kunst in einen spannenden und spannungsreichen Dialog.

Die begleitend erscheinende Publikation zeigt 53 hochkarätige Landschaftsgemälde aus sieben Jahrhunderten und ermöglicht somit einen Spaziergang durch die Kunstgeschichte. 53 bedeutende Schriftsteller, Publizisten, Intellektuelle, Kunst- und Naturwissenschaftler haben sich mit den Natur-, Kultur-, Welt- oder Seelenlandschaften auseinandergesetzt und begleitende Gedichte, Geschichten und Essays verfasst.

Darunter auch der 1954 in Schaffhausen geborene Autor, Essayist und Lyriker Ralph Dutli, der sich mit dem bekannten Ölgemälde Oberstdorfer Landschaft (1912) des russischen Expressionisten Alexej Jawlensky literarisch auseinandergesetzt hat. Dutli gelingt hierbei der Spagat zwischen Beschreibung und ironischem Kommentar. Er schenkt Dingen Beachtung, an denen die meisten Museumsbesucher achtlos vorübergehen. Warum sonst beschwert sich niemand, dass es in Oberstdorf keine solche Landschaft gibt? Warum fällt keinem auf, dass das Gemälde vielmehr violette Brotlaibe, halluzinogene Eissorten und gestrandete Wale zeigt?

Alexej Jawlensky, Oberstdorfer Landschaft, 1912

Violette Brotlaibe, 
halluzinogene Eissorten, gestrandete Wale

Ralph Dutli

Es wird doch nicht irgendwer behaupten wollen, es gebe in Oberstdorf
eine solche Landschaft!
Der Titel kann nur sehr ironisch gemeint sein, diese supergenaue
geographische Ortung meint genau das Gegenteil:
Es gibt eine solche Landschaft gerade NICHT in Oberstdorf.
Und auch sonst nirgendwo auf der Welt.
Es gibt sie auf meiner Leinwand, und damit Schluss.
Und zwar jetzt gleich, und dann nie mehr.
Das Licht spaßt nicht, es ist der tagträumende Augenblick der
Verwandlung.
Monumental einmalig.
Der Maler ist eine alleinige erleuchtete Lichtfabrik.
Trockene Bergluft.
Oberstdorf – das ist ein guter Scherz.
Bayern ist nirgendwo.
Es hätte auch Mars oder Tahiti oder Torschok in Russland, wo er 1864
geboren wurde, darunter stehen können.
Ich hätte ihm nicht mehr geglaubt.
Die Geographie ist ein Witz.
Die Farbe erfindet sich eine eigene Geographie, die keine Ortsnamen
mehr braucht, alle Namen abgelegt hat.

Das Nebelhorn ist der Hausberg von Oberstdorf.
Hausberg, wo man aus und ein …?
Es gehört zu den Nördlichen Kalkalpen.
Seine Nachbarn sind, von Jawlensky in vornehmer Anonymität gemalt:
Fellhorn, Himmelschrofen, Höfats.
Kratzer, Großer Krottenkopf, Mädelegabel.
Rubihorn, Schattenberg, Schneck.
Trettachspitze, Hoher Ifen, und eben: besagtes Nebelhorn.

Lautlich sehr bunte, folkloristisch borstig-bärtig-zottige, in der Bergluft
sich kräuselnde, nicht glatte Namen.
Jawlensky nimmt ihnen die bunten Namen, malt ihnen aber jeweils
eine völlig eigene Farbe zu, wie man etwas zuschreibt, schamrot andichtet.
In der eigenen Euphorie.
Sie verzichten jetzt also unisono auf ihre Namen, wollen aber ihre
Farben nicht mehr hergeben.
Wir sind nichts mehr als nur sie.
Wir sind so einmalig. So einmalig sind wir!
Unablösbare Pigment-Haut.

Lieber keine Namen, aber SOLCHE Farben.
Berge können nicht lesen, aber die Farben verstehen sie.
Himmlisches Analphabetentum. Köstliches Farblachen.
Bergiges Kichern.
Das Einzige, was hier seinen Namenstag feiert, ist die lallende Farbe.
Sie ist ein schönes, großzügig lallendes Nichts, sie ist nichts als sie selbst.
Selbst begeistert von Jawlenskys Pinsel:
Noch keiner hatte uns bisher erkannt.

Aber Oberstdorf – ein Scherz!
So wie keiner im kunterbunten italienischen Eislokal beim Anblick
der Töpfe und metallenen Behälter ausrufen würde:
Das ist Oberstdorf!
Ja, diese Eisdielennähe.
Nie war Bayern bunter, nie lag es näher bei Gauguins Tahiti, bei
italienischen Eisaromen.
Oberstdorf sei die südlichste Gemeinde Deutschlands, also ganz nah –
ein schmales Österreich überhüpfend – an italienischen Eisdielen gebaut.
Noch einen Sprung und dann kommt gleich Tahiti.

Denkt irgendwer an Täler und Berge?
Das ist höchstens das oberste erreichbare Dorf im Paradies der Pigmente.
Hier macht die Palette für sich ein Fest in der Bergluft, der Pinsel jubi-
liert alpenhaft, rührt glühend jeden Winkel auf, Türkis und Zitronengelb,
Rostrot und Kobaltblau, Kardinalspurpur bis Bischofsviolett.

Aber auch Generalsfarbe.
Jawlensky wollte ja Offizier werden, er hatte eine Offizierskarriere hinter
sich, als die Malerei ihn für sich entdeckte.
Kadettenschule in Moskau, Militärakademie, Oberleutnant, der aber
lieber die Tretjakow-Galerie und dann in Sankt Petersburg die Imperiale
Kunstakademie besuchte.
Wie einleuchtend, dass er sich verabschiedet hat, um solche Berge zu malen.
Gibt es ein oberstes Dorf der Vorsehung?
Jawlenskys Vater war Oberst.
Jawlensky will nicht im Dorf bleiben.
Die Sommerfrische 1912, die er mit der Baronin und Generalstochter
Marianne von Werefkin in Oberstdorf verbrachte, hat seinem Pinsel
berghaft gutgetan.
Sie stritten sich oft.

Das sind violette Brotlaibe, halluzinogene Eissorten, gestrandete Wale.
Die Berge träumen erst einmal von einer gewaltigen Backstube.
Farbige Brote, aber definitiv unverzehrbar.
Lieber die Backstube verlassen, die Leinwand backt anderswo.
Oder die Berge träumen vom Meer.
Das flutet, das wogt, wellig, wogig, das hebt sich wie Wellenrücken,
von rechts her, und dann gerne hinaufgespült zu den Zitronenspitzen.
Der Abend spielt wirklich verrückt.
Kein Plätschern ist hörbar, nur der Abend spielt sich einmal alle
Farben sprunghaft durch.
Eisaromen mit viel Zitrone am oberen Horizont.
Und diese Bergtannen sind wie Sägen, die sich Täler gönnen, sich tief
in sie eingraben, einsägen, einseufzen.
Nur hinein mit dem grünen Sägeblatt.
So wenig Mensch hier, nichts Hautmäßiges, nur die geweiteten Pupillen.
All diese Farben – der Wahnsinn. Lecker.
Wahnsinn gewordene Wale.
Sie wollen stranden, aber nicht verenden, sie wogen zurück.
Kobaltwale, Pigmentekstase, o Gelb, das dir den Mund zusammenzieht.
Kennst du das Land, wo das Zitronengelb…
Oberstdorf – Türkisparadies.
Hier gibt es eine Seelenkapelle.

In einem Roman habe ich geschrieben:
Die einzige Erlösung gibt es nicht.
Die einzige Lösung ist die Farbe.
Sie ist die letzte mögliche Religion.
Nein, ich hatte mich verschrieben: Rebellion.1
Aber wogegen? Gegen eine farblose Welt?
Farbe feiert, Farbe fackelt, flackert, flattert, flimmert, flirrt,
funkt und flunkert?
Farbe liebt das F, das ist ja wohl klar.
Farben sind Narben, aber Jawlenskys Auge liegt völlig unversehrt in
der Landschaft.
Keine Farbe will je in der metallenen Tube mit der Bauchbinde bleiben,
alles drängt heraus, jede lehnt sich auf gegen malerische Missachtung,
gegen ein verschmähendes Nichtaufgebot.
Jede will teilhaben an der Bergparade.
Statt der Grauen Welt aus Fels und Geröll – Farbsymphonie, wenn
das keine abgegriffene Synästhesie wäre.
Farbe macht keine Musik.
Bergesglühen – unendlicher monumentaler Kitsch ist in den Bergen
möglich.
Hier aber peitscht jede Farbe zornig den Kitsch aus dem Bild.
Noch nie dagewesene Farbberge.
Gibt es also Wale in Oberstdorf?
Heilklimatischer Kurort in den Allgäuer Alpen.
Heilen Landschaften?
Gibt es heilige unter diesen Eisdielen?
Ich fühle mich weniger geheilt (wovon? will ja nicht!) als roh und
froh betrunken gemacht von diesem Herrn aus Torschok mit seinen
frappanten Eissorten.

Da ist so eine herrliche Euphorie unter den immobilen Berggötzen, ein
monumentales Aufwellen, Aufbäumen, Aufbergen, Aufhügeln.
Radikal malerische Geologie.
Jede Landschaft ist eine zart-wunderbare Behauptung.
Jede Landschaft ist ein einmaliges strengreligiöses Jetzt.
Jede Landschaft ist purer Eigensinn.

Oberstdorf ist berühmt für seine Skisprungschanzen.
Den Schnee kannst du vergessen.
Jawlensky schickt also das Auge, mein-dein-sein Auge, auf so eine
farbige Schanze hinaus und lässt es schweben, schweben, schweben.

Der Himmel ist das oberste Dorf, wo es noch Farben gibt.
Die Farbe ist der oberste Himmel, der sich Dörfer gönnen kann.
Das Bild ist ein Dorf, wo die Farben alle Geographie zum Kuckuck schicken.

 

Unter-freiem-Himmel

 

Publikation: Unter freiem Himmel

herausgegeben von Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Kirsten Voigt.
Gestaltung von Fine German Design.

ISBN: 978-3-7356-0271-8

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